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Nachruf auf Prof. Dr. Oskar Negt

Nachruf auf Prof. Dr. Oskar Negt

Die Philosophischen Fakultät und das Institut für Soziologie trauern um Oskar Negt, der am 2. Februar 2024 im Alter von 89 Jahren verstorben ist.

In Ostpreußen 1934 geboren, verbrachte Oskar Negt seine Kindheit im bäuerlichen Milieu. Die Flucht führte die Familie 1945 erst in den Osten Deutschlands, später folgte die zweite Flucht aus der DDR nach Westdeutschland.
Negts Weg in die Universität führte zunächst zum Jurastudium nach Göttingen, das er aber nach kurzer Zeit abbrach, um nach Frankfurt zu wechseln. Dort studierte er Philosophie und Soziologie bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ungewöhnlich für Frankfurter Verhältnisse, beschäftigte er sich nicht nur mit Theorie, sondern suchte den Weg in die Praxis. Eigentlich noch mit dem Studienabschluss beschäftigt, entstanden Verbindungen zu den Gewerkschaften und insbesondere zur IG Metall. Diese Kontakte eröffneten einen Einstieg in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. In den anderthalb Jahren als Assistent an der DGB-Bundesschule in Oberursel entwickelte er sein Bildungskonzept auf dem Fundament des Soziologen Charles Wright Mills und des Pädagogen Martin Wagenschein.
Für Negts theoretischem Werdegang bildete die Gründung des Marx-Arbeitskreises im Frankfurter SDS einen Markstein, mit dem er Neuland in der durch Antikommunismus geprägten Kultur Westdeutschlands betrat. Der Deutsche Sozialistische Studentenbund bestand damals noch als Organisationsteil der SPD (erst nach der Verabschiedung des Godesberger Programms schloss ihn die Partei als zu weit linksstehend aus).
Max Horkheimer hatte 1937 in seinem grundlegenden Text zur Kritischen Theorie dargelegt, dass diese von traditioneller Theorie durch die Reflexion auf die Interessen zu unterscheiden sei, die notwendig in jede Theoriebildung ein-fließen. Soziologinnen und Soziologen befinden sich nicht außerhalb des Gegenstandes ihrer Forschung. Horkheimer setzt traditioneller Theoriebildung, die ›naturwissenschaftliche‹ Objektivität anstrebt, das kritische Denken entgegen, das sich selbst in seinen konkreten Beziehungen mit dem gesellschaftlichen Ganzen reflektiert. Negt gelang es in seinem wissenschaftlichen Werdegang, die Kritische Theorie auf verschiedenen Ebenen produktiv weiterzuführen. Zwar entwickelte sich früh ein Dogmatismus, der ausschließlich die Schülerinnen und Schüler von Horkheimer und Adorno als Repräsentation der ›reinen Lehre‹ anerkannten. Doch Negt bezog, was der Intention seiner Frankfurter Lehrer entsprach, ein Spektrum des kritisch reflektierenden Denkens von Immanuel Kant bis Norbert Elias ein, eben jenes Spektrum, das sich nicht nur auf Beschreibung und Interpretation des Bestehenden richtet, sondern auch de-mokratisch-emanzipatorische Veränderung der Verhältnisse im Blick hat.
Als Mentor der 1968er Protestbewegung war Negt ins Scheinwerferlicht des öffentlichen Diskurses getreten. Mit Jürgen Habermas verband ihn, seit der Frankfurter Zeit eine freundschaftliche Verbindung, die nur vorübergehend wegen unterschiedlicher Einschätzungen der politischen Bewegung in unruhiges Fahrwasser geraten war.
Nach dem Zerfall des SDS wurde Negt zum Vordenker der Neuen Linken. Er engagierte sich im »Sozialistischen Büro« in Offenbach, das sich als organisatorisches Energiezentrum für Basisinitiativen unterschiedlicher Arbeitsfelder ver-stand. Auf dem vom Büro 1972 organisierten Solidaritätskongress für Angela Davis, die in Kalifornien wegen vermeintlichen Waffengebrauchs vor Gericht stand, wich er vom Thema ab: er sprach nicht über die Zustände in den USA, sondern geißelte mit klaren Worten die Taten der Baader-Meinhof-Gruppe (RAF). Deren Gewaltradikalismus bezeichnete er als unvereinbar mit den Zielen der politischen Linken.
In diesem Jahr gelang ihm auch, gemeinsam mit anderen Eltern, die Gründung der antiautoritären Glocksee-Schule in Hannover, die als staatliche Schule bis heute besteht. ›Antiautoritär‹ hat, um möglichen Missverständnissen vor-zubeugen, nichts mit ›laissez-faire‹ zu tun, vielmehr zieht dieser Bildungsansatz eine Schlussfolgerung aus Faschismusstudien, die Menschen mit autoritären Charakterstrukturen als willige Manövriermasse des Führerstaates analy-sierten. Diese Erkenntnisse sind auch heute aktuell, da solche Persönlichkeitsstrukturen für die Gefolgschaft von Rechtspopulisten kennzeichnend sind. Die Glocksee-Pädagogik, die Relevanz für die Weiterentwicklung unserer Demokratie besitzt, stellt selbstorganisiertes Lernen ins Zentrum. Dieses Konzept konnte auf Negts Erfahrungen in der Erwachsenenbildung aufbauen.
Antiautoritär eignet sich als Begriff bestens zur Charakterisierung Negts als Hochschullehrer. In seinen Seminaren herrschte eine Atmosphäre der Freiheit des Argumentierens unter Gleichen. Dabei kam oft seine besondere Fähigkeit zum Zuge, theoretisch Abstraktes mit dem lebensweltlichen Wissensbestand zu verbinden und anschaulich zu ma-chen. So wurden in der Diskussion Wege geebnet, die dem genetischen Lernen dienten, also dem Organisieren von Lernprozessen von den Lernenden aus.
In die Zeit der Schulgründung fiel auch der Beginn einer fruchtbaren schriftstellerischen Zusammenarbeit mit  Alexander Kluge, aus der vier Bücher hervorgingen. Anders als diese Kooperation blieb die Beratertätigkeit für Gerd Schröder, den Negt in Hannover als Vorsitzenden der Jusos kennengelernt hatte, eine Episode. Nach den Jahren als Assistent bei Jürgen Habermas erfolgte 1970 seine Berufung auf die Soziologie-Professur in Hannover. Er gehört zu den bedeutenden politischen Intellektuellen der Bundesrepublik. Mittlerweile liegen seine Schriften als 20-bändige Werkausgabe vor. 


Prof. Dr. Marian Döhler
Dekan der Philosophischen Fakultät

Prof. Dr. Eva Barlösius
Geschäftsführende Leitung 
Institut für Soziologie    

Prof. i.R. Dr. Lutz Hieber
Institut für Soziologie